Elaine Aron: Warum HSP nicht schüchtern sind – obwohl sie es glauben

Warum Hochsensible nicht schüchtern sind (obwohl sie es glauben!!)

Enthält Werbung | Elaine Aron gilt als die Entdeckerin der Hochsensibilität. In den Neunzigern veröffentlichte sie das Buch „Sind Sie hochsensibel? *“, in dem sie die Ergebnisse ihrer Forschungen mit Hochsensiblen (HSP) darlegt. Es gilt heute als DAS Standardwerk zum Thema Hochsensibilität.

Ich lese das Buch gerade (erneut) und besonders der Teil über „Schüchternheit“ ist bei mir hängengeblieben. Ich fand dieses Thema so spannend, dass ich dir hier die wichtigsten Erkenntnisse dazu zusammengefasst habe.

Denn: Elaine Aron ist überzeugt, dass viele Hochsensible gar nicht schüchtern seien, obwohl sie sich selbst so einstufen würden.

Wie sie darauf kommt? Das erfährst du in diesem Artikel.

Was ist Schüchternheit überhaupt?

Schüchternheit und Sensibilität werden oft verwechselt oder gleichgesetzt. Dabei sind das zwei ganz unterschiedliche Dinge.

Das ist Sensibilität

Sensibilität ist angeboren und Teil unserer Persönlichkeit. Außerdem kann Sensibilität vererbt werden. Wenn die Eltern sehr empfindsam sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch bei den Kindern eine erhöhte Sensibilität vorliegt.

Das ist auch bei mir der Fall. Ich habe sehr empfindsame Eltern, meine Mutter ist sogar hochsensibel. Kein Wunder also, dass ich auch zartbesaitet bin. Bei meiner Schwester ist es allerdings nicht ganz so ausgeprägt wie bei mir. Sie ist eher ein geselliger Mensch und etwas robuster im Umgang mit anderen Menschen.

Das ist Schüchternheit

Aber zurück zur Schüchternheit. Schüchtern zu sein bedeutet, Angst davor zu haben, von anderen Menschen abgelehnt und nicht gemocht zu werden. Im Gegensatz zur Sensibilität kann Schüchternheit nicht vererbt werden und es kommt auch niemand schüchtern zur Welt. Es handelt sich hierbei um einen Gemütszustand und nicht um ein Charaktermerkmal.

Da Schüchternheit kein Teil unserer eigenen Persönlichkeit ist, kann sie auch überwunden werden. Sensibilität hingegen bleibt unser Leben lang und wir können lediglich lernen, damit sorgsam umzugehen.

Anzumerken ist an dieser Stelle, dass es sehr wohl schüchterne Hochsensible gibt. Aber viele HSP denken nur, sie seien schüchtern. Dabei steckt etwas ganz anderes dahinter.

*

Wie entsteht Schüchternheit?

Wenn Schüchternheit ein Gemütszustand und kein Charakterzug ist, woher kommt sie dann?

Ganz einfach: von (mindestens) einem Erlebnis, dass so richtig in die Hose gegangen ist und bei dem wir uns schrecklich in der Gegenwart von anderen Personen gefühlt haben.

In der Regel läuft das so ab:

  1. Die betroffene Person wird in einer sozialen Situation abgelehnt oder bekommt das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Vielleicht wird sie ausgeschlossen oder sogar ausgelacht wegen etwas, das ihr misslungen ist.
  2. Die Person speichert das im Gedächtnis.
  3. Einige Zeit später findet ein ähnliches Ereignis statt. Die Person ist etwas aufgeregt, weil sie sich daran erinnert, wie miserabel sie sich das letzte Mal in dieser Situation gefühlt hat. Und weil sie so angespannt ist, läuft es auch dieses Mal für die Person schlecht.
  4. Auch das speichert sie im Kopf ab.
  5. Beim nächsten Mal ist sie noch nervöser. Und je nervöser sie ist, desto mehr vermasselt sie die soziale Situation und desto mehr Angst bekommt sie wiederum davor, dass ihr das wieder passieren könnte.

Diese Angst kann sich auch auf ähnliche oder sogar alle sozialen Situationen ausweiten. Das ist es, was man unter Schüchternheit versteht.

Warum glauben viele Hochsensible schüchtern zu sein?


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Laut Elaine Aron betrachten sich viele Hochsensible als schüchtern, obwohl das nicht unbedingt zutrifft.

Dennoch stellt die Autorin klar, dass wir HSP viel feinere Antennen haben und durchaus bemerken, wenn wir in der Öffentlichkeit von anderen Menschen beobachtet oder bewertet werden.

Auch wenn keine böse Absicht dahintersteckt, tendieren wir alle dazu, andere zu beobachten und zu bewerten. Das ist ganz normal.

Und auch wir Hochsensiblen machen uns – vielleicht noch mehr als andere – Gedanken darüber, wie andere uns wahrnehmen.

„Normalsensiblen“ bleiben die bewertenden Blicke von anderen eher verborgen und sie tun die Sorge darum als unbegründet ab.

Das mag der Grund sein, warum HSP mehr zu Schüchternheit tendieren als andere – was nicht heißt, dass weniger sensible Menschen NICHT schüchtern sein können oder ALLE Hochsensiblen schüchtern seien.

Warum sagt Elaine Aron nun aber, dass viele HSP gar nicht so schüchtern seien, wie sie glauben? Dem gehen wir jetzt auf den Grund.

Nervliche Anspannung = Angst?

Hochsensiblen fehlt der Filter im Kopf, der die Reize, die ständig auf uns einprasseln, aussieben. Wir bekommen einfach alles mit, Gespräche am Nebentisch, ein laufendes Radio im Hintergrund, das penetrante Parfum unseres Gegenübers, die Hitze im Raum und so weiter.

Dadurch kommt es zu einer Überstimulierung, was dazu führen kann, dass wir fahrig, unruhig und erschöpft werden, ja vielleicht sogar Herzklopfen oder Kopfschmerzen bekommen.

Während solch einer Reizüberflutung ist unser Nervenkostüm ziemlich dünn gestrickt und wir fühlen uns unruhig und überfordert. In dieser Situation ist es nur allzu normal, dass wir eher ruhig und zurückhaltend reagieren.

Unseren extrovertierten Mitmenschen ist dieser Zustand der Überreizung aber völlig unbekannt. Wenn sie an nervliche Anspannung denken, kommt ihnen sofort eines in den Sinn: Angst.

Sie deuten unser Unwohlsein also nicht als Reizüberflutung, sondern als Furcht vor Ablehnung.

Das heißt, wir bekommen häufig eingeredet, dass wir schüchtern seien, obwohl wir vielleicht einfach nur völlig überstimuliert sind.

Laut Elaine Aron kommt es auch vor, dass Extrovertierte ihre eigene Angst vor Zurückweisung auf uns projizieren. Das ist natürlich eine knifflige Situation und nicht immer leicht zu lösen.

HSP haben weniger Übung mit Menschen

Ein weiterer Punkt, den Elaine Aron anführt, ist, dass Hochsensible von Natur aus gerne alleine sind und daher auch gar nicht so oft unter Menschen gehen. Zumindest die introvertierten HSP, die einen Großteil ausmachen.

Und wenn wir etwas nicht häufig tun, haben wir auch wenig Übung darin. Das heißt, ganz unabhängig davon, ob wir schüchtern sind oder nicht, soziale Situationen sind etwas Ungewohntes für uns.

Dass man an ungewohnte Situationen mit einer gewissen Vorsicht und Zurückhaltung drangeht, ist nur logisch. Das würden die meisten Menschen so machen, stimmt’s?

Sozialer Rückzug wird missverstanden

Dieser soziale Rückzug wird von unseren extrovertierten Mitmenschen aber häufig völlig missinterpretiert. Uns wird gesagt, dass wir ein schlechtes Selbstwertgefühl hätten, ja vielleicht sogar depressiv seien.

Dabei muss das gar nicht stimmen. Aber dadurch, dass man uns das möglicherweise schon als Kinder oder Jugendliche eingeredet hat, fangen wir irgendwann selbst an zu glauben, dass mit uns etwas nicht in Ordnung ist.

Dabei sind wir einfach nur anders. Wir sind empfindsam. Das kann Nachteile mit sich bringen, hat aber auch seine guten Seiten.

Schüchternheit als selbsterfüllende Prophezeiung

In ihrem Buch „Sind Sie hochsensibel? *“ führt Elaine Aron ein spannendes psychologisches Experiment an, das von Susan Brodt und Philip Zimbardo 1981 an der Stanford Universität durchgeführt wurde.

Bei diesem Experiment gab es eine Gruppe von Studentinnen, die sich als schüchtern im Umgang mit Männern bezeichneten und solche, die sich nicht für schüchtern hielten.

Jede der Teilnehmerinnen sollte sich während des Experiments mit einem Mann unterhalten. Diesem Mann wurde vorher nicht gesagt, ob sich die betreffende Frau als schüchtern oder nicht schüchtern bezeichnet hatte. Er hatte einfach die Anweisung, sich mit jeder Frau ganz normal zu unterhalten.

Der Knackpunkt: Einem Teil der „schüchternen“ Frauen wurde vor dem Experiment glauben gemacht, dass ihre nervliche Anspannung und ihr Herzklopfen während der Unterhaltung mit dem Mann vom Lärm in der Umgebung herrühren würde.

Das Ergebnis: Diese Frauen führten ein genauso angeregtes Gespräch wie die nicht schüchternen Frauen. Sie bestimmten sogar manchmal das Thema und übernahmen die Führung.

Die schüchternen Frauen, denen vorher nicht gesagt worden war, dass der Lärm für ihre Aufregung verantwortlich sei, verhielten sich viel zurückhaltender und überließen dem Mann die Führung des Gesprächs.

Nach dem Experiment ließ man den Mann raten, welche der Frauen schüchtern und welche nicht schüchtern seien. Er konnte die „schüchternen“ Frauen, die glaubten, der Lärm würde ihnen zusetzen, nicht von den nicht schüchternen Frauen unterscheiden.

Auch diese Frauen selbst gaben größtenteils an, dass sie sich während des Gesprächs wohl- und nicht schüchtern gefühlt hätten.

Was lernen wir daraus? Ein schneller Puls muss keinesfalls von Angst vor Ablehnung herrühren. Stattdessen kann sein, dass wir überreizt sind, sei es durch Lärm, starke Gerüche oder die vielen verschiedenen Stimmungen, die auf uns einprasseln. Dem dürfen wir uns immer bewusst sein.

„Schüchtern“ ist negativ besetzt

Auch führt Elaine Aron an, dass „schüchtern“ ein sehr negativ besetzter Begriff sei. Man könnte schüchterne Menschen mit positiven Begriffen wie zum Beispiel

  • sensibel,
  • unaufdringlich,
  • beherrscht,
  • nachdenklich

beschreiben.

Stattdessen setzen sogar psychologische Fachleute Schüchternheit mit schlechterer mentaler Gesundheit gleich und halten Betroffene für weniger intellektuell kompetent und leistungsfähig. Dabei hat das mit Schüchternheit überhaupt nichts zu tun.

HSP, die sich selbst als schüchtern einstufen würden, beschrieben sich zudem eher mit negativen Begriffen wie

  • unbeholfen,
  • besorgt,
  • ängstlich,
  • gehemmt,
  • zaghaft.

Das Problem an „schüchtern“

Elaine Aron gibt offen zu, dass sie ein Problem mit dem Begriff „schüchtern“ habe. Dies macht sie vor allem an diesen drei Faktoren fest:

  • Der Begriff ist ungenau.
  • Er ist negativ besetzt.
  • Er ist eine sich selbsterfüllende Prophezeiung.

5 Tipps, um in sozialen Situationen cool zu bleiben

Auch wenn wir Hochsensible Partys & Co. gerne vermeiden, können wir das nicht immer tun. Manchmal müssen wir uns trotz nervlicher Übererregung sozialen Situationen stellen.

Hierfür hat Elaine Aron ein paar wertvolle Tipps:

  1. Erinnere dich selbst daran: Übererregung ist nicht zwangsläufig Angst.
  2. Halte nach anderen HSP Ausschau und unterhalte dich unter vier Augen mit ihnen. Das tut gut und zeigt dir, dass du damit nicht alleine bist.
  3. Setze Techniken ein, die gegen die starke Anspannung helfen (Übererregung lieben lernen, Mantra oder Satz wiederholen, Situation neu bewerten etc.)
  4. Entwickle eine gute „Persona“ (eine Art Maske für die Öffentlichkeit) und setze sie ein (Anmerkung von mir: Das halte ich auf lange Sicht für etwas problematisch, aber kurzfristig kann das ganz nützlich sein)
  5. Erkläre anderen Menschen, was Hochsensibilität ist. Das kann zu wunderbaren Gesprächen führen und vielleicht können sich andere Leute im Raum ebenfalls damit identifizieren.

Wo kann ich mehr dazu erfahren?

Wenn du jetzt angefixt bist und mehr über das Thema Hochsensibilität erfahren möchtest, dann lege ich dir ganz klar Elaine Arons BuchSind Sie hochsensibel? *“ ans Herz (gibt’s auch als Hörbuch).

Du erfährst darin alles, wirklich ALLES, was du über Hochsensibilität wissen musst. Denn, wer hat’s erfunden? In diesem Fall Elaine Aron (okay, sie hat es nicht „erfunden“, sondern erforscht und den Begriff geprägt, aber das ist ja so ähnlich).

Auf einen Blick

Zum Schluss noch mal kurz zusammengefasst:

  • Schüchternheit ist kein Charakterzug, sondern ein Gemütszustand.
  • Es handelt sich dabei um die Angst vor Zurückweisung.
  • Hochsensible sind häufiger schüchtern, aber nicht alle und nicht ausschließlich.
  • Häufig steckt hinter gefühlter Schüchternheit eine nervliche Anspannung, die von Überreizung herrührt.
  • Wenn man sich dem bewusst ist, reagiert man oft weniger „schüchtern“.

Ich hoffe, dir hat mein Artikel gefallen und du konntest etwas für dich daraus mitnehmen.

Wir lesen uns bald wieder.

Halt die Ohren steif!

Alles Liebe,
Mim ✌️

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Quelle: Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen, 10. Auflage, München, mvg Verlag, 2015, S. 147 ff.

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2 Kommentare

  1. Hallo Mim,
    das ist ja mega spannend! Ich glaube, ich muss das Buch auch mal lesen 🙂

    Elaine Aarons Kritik an dem Begriff schüchtern kann ich gut nachvollziehen. Es gibt wirklich Studien, die zeigen, dass schüchternen Menschen weniger zugetraut wird (das macht mich immer richtig wütend, wenn ich das lese). Und wenn so ein Begriff negativ aufgeladen ist, beeinflusst das ja auch oft, wie man über sich selber denkt. Ich kann mir das richtig gut vorstellen, dass ein Erklärungsansatz ohne Bewertung (wie „Ich bin überreizt, weil mich die vielen Sinneseindrücke hier stressen.“) auch einen entspannteren Umgang mit der Situation möglich macht.

    Danke, dass du hier von deinen Erkenntnissen berichtet hast!
    Liebe Grüße
    Paula

    1. Hallo Paula,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Jap, das Buch ist echt interessant, ich kann’s dir nur ans Herz legen. 🙂

      Spannend, dann hast du da auch schon Studien dazu gelesen? Ich denke, das ist auch voll dein Thema, oder? Weil Schüchternheit ja auch viel mit Kommunikation zusammenhängt. Ich denke auch, dass viele Menschen möglicherweise von der Gesellschaft schüchtern gemacht werden, in dem man es ihnen ständig einredet. Dabei sind es vielleicht einfach nur ruhige Menschen, die nicht das Bedürfnis haben, viel zu reden oder sie sind – wie im Artikel angesprochen – überreizt. Es gibt so viele Gründe, warum jemand schüchtern wirken könne, obwohl er*sie es vielleicht gar nicht ist.
      Und ja, dass Schüchterne oft völlig unterschätzt werden, ist leider auch die bittere Realität. Kann ich verstehen, dass dich das wütend macht – mich nämlich auch!

      Liebe Grüße
      Mim

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