Introversion im Wandel der Zeit

Links steht: Introversion im Wandel der Zeit. Rechts ist ein Foto von Mim Gaisser mit dem Buch "Introvertiert - Die leise Revolution" von Linus Jonkman abgebildet

Werbung | Kürzlich habe ich das Buch „Introvertiert – Die leise Revolution“ * von Linus Jonkman ausgelesen. Eine Lektüre, die mir in einigen Punkten noch neue Erkenntnisse brachte und über die ich viel nachdenken musste. (Und ich liebe es, wenn Bücher mich zum Nachdenken anregen.)

Im Folgenden gehe ich auf einen Aspekt ein, dem in „Introvertiert – Die leise Revolution“ ein ganzes Kapitel gewidmet ist: den Wandel vom introvertierten zum extrovertierten Ideal in der westlichen Welt.

Früher war die Welt introvertiert

Wir Introvertierte leiden oft etwas darunter, dass unsere Gesellschaft in erster Linie extrovertierte Eigenschaften schätzt. Doch das war nicht immer so.

Bis in die 1950er-Jahre hinein, galt im Westen vorwiegend das introvertierte Ideal. Die Menschen sollten sich zurückhaltend und bescheiden benehmen. Leinwandhelden wie John Wayne oder Humphrey Bogart waren eher wortkarg. Es sei darum gegangen, ein Macher zu sein, kein Schwätzer, schreibt Jonkman. Frei nach dem Motto: Reden ist Silber, schweigen ist Gold.

„In den Schulen den 1950er Jahre wagte es niemand, seinen Lehrer in Frage zu stellen. Kinder wurden angewiesen, Erwachsene nicht zu unterbrechen und oft gar nicht zu sprechen. Es ist leicht zu erkennen, warum es falsch war, gesprächig, aufgeschlossen und sozial zu sein. Extrovertierte wurden damals unterdrückt.“

Quelle: Jonkman, L. (2021). Introvertiert – Die leise Revolution. bad project. S. 41

Gesellige, aufgeweckte Kinder hatten es damals nicht leicht. Sie steckten in der Situation, in der sich heute stille und sensible Kinder befinden.

Extroversion hält Einzug

Mit dem Fall Rosa Parks, einer schwarzen Frau in den Vereinigten Staaten, die sich weigerte, im Bus ihren Sitzplatz einem Weißen zu überlassen, habe sich die Gesellschaft geändert. Es sei nicht nur um Rassentrennung in den USA gegangen, sondern auch um das Recht, seine Meinung zu äußern und die Gleichwertigkeit eines jeden Menschen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und Sexualität.

Ab den 1960er-Jahren ging es nicht mehr um das Kollektiv, sondern das einzelne Individuum. Selbstverwirklichung anstatt Aufopferung für die Gemeinschaft. Frei die eigene Meinung sagen und spontan sprechen, wurden zur Stärke. Diskussionen waren angesagt, anstatt sittsames Schweigen.

Die Schule war da noch etwas hinterher. Als Linus Jonkman in den 1980er-Jahren die Schulbank drückte, habe es ausgereicht, kurz vor einer Prüfung schnell eine Menge Wissen zu pauken, um Bestnoten zu bekommen. Ob man im Unterricht geschlafen habe oder nicht, habe keinen interessiert und Gruppenarbeiten gab es so gut wie gar nicht.

Die Jugendlichen hatten auch ganz andere Vorbilder: Rockstars wie die Jungs von Guns N Roses oder Mötley Crüe waren hauptsächlich für ihren Drogenkonsum und ihre Skandale bekannt. Linus Jonkman schreibt, dass es damals darum gegangen sei, sich apathisch zu verhalten und sich um nichts zu kümmern. Eine ziemlich negative Einstellung, die sich heute ins Gegenteil verkehrt hat.


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Zwanzig Jahre später ist alles anders

Um die Jahrtausendwende habe sich in den Schulen einiges geändert:

„Schularbeit heißt zunehmend auch Gruppenarbeit. Heute reicht es nicht mehr aus, gute Arbeiten zu schreiben oder über komplexe Fragestellungen nachzudenken. Nein, was zählt, ist, dass du aufstehen und mit dem Rest der Klasse darüber reden kannst. Du solltest auch in der Lage sein, rhetorisch zu argumentieren, was du zu sagen hast.“

Quelle: Jonkman, L. (2021). Introvertiert – Die leise Revolution. bad project. S. 50

Das kann ich auch aus eigener Erfahrung bestätigen. Die von Introvertierten so gefürchteten Gruppenarbeiten haben im modernen Unterricht einen hohen Stellenwert. Auch Präsentationen oder Referate sind eine gängige Praxis im Schulalltag. Einfach nur gute Noten in Klassenarbeiten zu schreiben, ist nicht mehr genug.

Ich war ein sehr stilles Kind in der Schule, habe mich selten gemeldet. Das änderte sich erst später, als ich mich mit Anfang zwanzig entschloss, ein Berufskolleg für Fremdsprachen zu besuchen. In den unteren Klassen versteckte ich mich stets hinter meinen Schulbüchern und hoffte, nicht aufgerufen zu werden. Das wirkte sich natürlich auch negativ auf meine Noten aus.

Als ich meine Ausbildung in einer Bibliothek machte, war ich in einer Berufsschulklasse, die größtenteils aus stillen Menschen bestand. Sogar während der Pausen herrschte im Klassenzimmer Ruhe. Manchmal redeten welche miteinander, aber dann in gedämpftem Ton. Ich fand diese Klasse sehr angenehm und hatte mich zuvor selten in einer Gemeinschaft so wohlgefühlt.

Unserer Klassenlehrerin, einer sehr extrovertierten Frau, ging es leider gar nicht gut damit. Sie wertete unser zurückhaltendes Verhalten als Leistungsverweigerung und fand es „bedrückend“ wenn sie unser stilles Klassenzimmer betrat. Ihrer Aussage nach, wünschte sich eine laute, aufgeweckte Klasse, die sich rege am Unterricht beteiligte und mit der man auch mal diskutieren konnte.

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Sehen und gesehen werden

Heutige Jugendliche hätten vor allem „bildhübsche Menschen“ als Vorbilder, die ihren Fans den Glauben an sich selbst nahebringen und einen Sinn für Toleranz vermitteln.

Mit dem Einzug der Talentshows wie Deutschland sucht den Superstar oder Let’s Dance habe sich die moderne Jugendkultur geändert. Junge Menschen wetteifern heute miteinander, indem sie ihre Schönheit und Fähigkeiten zur Schau stellen, egal, ob sie wirklich talentiert sind oder nicht. Jeder möchte ein Stückchen vom Kuchen „Berühmtsein“ abhaben. Und mal ehrlich: Nie war es so einfach, berühmt zu werden, wie heute.

„Früher waren wir bekannt, weil wir besonders waren; heute wollen wir besonders sein, indem wir bekannt sind.“

Quelle: Jonkman, L. (2021). Introvertiert – Die leise Revolution. bad project. S. 50

Ist der Scheitelpunkt überschritten?

Linus Jonkman beobachtet schon seit längerer Zeit, dass unsere westliche Gesellschaft introvertierte Eigenschaften erneut in den Mittelpunkt rückt. Alte Werte seien wieder auf dem Vormarsch.

Folgendes deute daraufhin:

  • Es tauchen häufiger introvertierte Charaktere in Film und Literatur auf (z. B. Lisbeth Salander in der Millenium-Reihe von Stieg Larsson)
  • Menschen heiraten heute wieder früher als noch vor zehn Jahren
  • Mehr junge Leute wollen den Haushalt führen oder sich selbstständig machen
  • Die Familie ist wieder wichtiger als die Karriere
  • Es besteht ein Trend, aufs Land zu ziehen und mehr Zeit in der Natur zu verbringen (laut einer Forsa-Umfrage könnten sich sieben von zehn Frauen zwischen 15 und 29 Jahren vorstellen, auf dem Land zu leben)

Und noch etwas hat sich in den letzten Jahrzehnten zugunsten von Introvertierten verändert:

„In der Vergangenheit saßen Introvertierte im Keller und schufen erstaunliche Dinge. Das Problem war, dass sie nicht die Kapazität hatten, dies einer schreienden Menge zu verkaufen. […] Mit Hilfe des Internets können Introvertierte nun ihre Produkte in die Öffentlichkeit bringen, ohne dass der Schöpfer irgendjemandes Blicken begegnen oder schwierige Telefonate führen muss.“

Quelle: Jonkman, L. (2021). Introvertiert – Die leise Revolution. bad project. S. 51

Ich finde auch, dass das Internet für Introvertierte ein wahrer Segen ist. Nicht nur für Selbstständige, die etwas verkaufen wollen, sondern auch um sich mitzuteilen oder Gleichgesinnte kennenzulernen.

Ob nun Dinge wie eine frühere Heirat, die Entscheidung gegen die Karriere oder ein Umzug aufs Land typisch introvertierte Züge seien, darüber lässt sich wohl streiten. Ich entspreche dem zum Beispiel überhaupt nicht, bin aber sehr introvertiert.

Schlussgedanken

Fassen wir noch einmal zusammen:

  • Bis in die 1950er-Jahre hinein hatte die Gesellschaft ein introvertiertes Ideal. In den 1960er-Jahren änderte sich dies. Das einzelne Individuum wurde in den Mittelpunkt gestellt.
  • Während in den 1980er-Jahren vorwiegend negative Vorbilder die Jugendlichen beeinflussten, sind es heute „bildhübsche Menschen“, die in Talentshows ihr Können unter Beweis stellen. Es geht darum, sich selbst zu verwirklichen und die eigenen Träume und Wünsche zu erfüllen.
  • Auch die Schulen änderten sich diesbezüglich. Während es früher genügte, gute Klausuren zu schreiben, stehen heute Gruppenarbeiten und Präsentationen im Vordergrund.
  • Dennoch ist auch ein Trend in Richtung Rückkehr zu alten Werten wie denen in den 1950er-Jahren zu erkennen. Introvertierte werden langsam wieder mehr geschätzt und durch das Internet können sie sich zeigen, ohne zu weit aus der eigenen Komfortzone heraustreten zu müssen.

Jetzt interessiert es mich natürlich brennend, was deine Erfahrungen dazu sind. Hast du auch das Gefühl, dass die Welt wieder „introfreundlicher“ wird? Oder findest du, dass das extrovertierte Ideal immer noch überwiegt? Lass es mich in den Kommentaren unter diesem Beitrag wissen oder nimm Kontakt mit mir auf! Ich freue mich sehr über dein Feedback.


Fakten zum Buch

Titel: Introvertiert – Die leise Revolution
Originaltitel: Introvert – Den tysta revolutionen (Schwedisch)
Autor: Linus Jonkman
Verlag: bad project
Erscheinungsjahr: 2021
Seitenanzahl: 306 S.
ISBN: 978-3-949294-34-1

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1 Kommentar

  1. Hast du das Gefühl, dass die Welt „intro-freundlicher“ wird? Oder glaubst du, dass wir immer noch sehr gegen das extrovertierte Ideal zu kämpfen haben?

    Ich freu mich riesig auf dein Feedback!

    Alles Liebe,
    Mim

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