„Du bist introvertiert? Mach dir keine Sorgen, das kann man überwinden. Ich war früher auch schüchtern und jetzt bin ich voll extrovertiert.“
Kennst du solche oder ähnliche Sprüche?
Mein Tipp: Glaube diesen Menschen nicht! Sie haben keine Ahnung, was Introversion eigentlich ist.
Allein in dieser Aussage stecken nämlich schon drei Mythen, die wir Intros leider nicht loswerden:
- Introversion und Schüchternheit sind dasselbe.
- Introversion ist eine Schwäche.
- Introversion kann man übrerwinden.
Alle drei Mythen sind FALSCH!
Die Wahrheit:
- Introversion und Schüchternheit sind NICHT dasselbe.
- Schüchternheit ist eine Schwäche. Introversion nicht.
- Schüchternheit kann man überwinden. Introversion nicht.
Im Folgenden werde ich auf diese drei Punkte näher eingehen und dir zeigen, was die wichtigsten Unterschiede zwischen Introvertiertheit und Schüchternheit sind – und Introvertiertheit nichts ist, das man ändern sollte.
Introversion und Schüchternheit sind NICHT dasselbe.
Auf den ersten Blick werden Introvertierte und Schüchterne leicht miteinander verwechselt. Beide sind zurückhaltend und stehen nicht gerne im Mittelpunkt. Auf einer Party findet man sie eher beobachtend am Rand, anstatt mitten auf der Tanzfläche. Und in großen Gruppen werden sie leicht übersehen, weil sie nicht viel sagen und von den geselligen, extrovertierten Menschen im Raum übertönt werden.
Wir sehen: Schüchterne und Introvertierte haben, rein äußerlich betrachtet, einiges gemeinsam.
Was ist nun der große Unterschied zwischen den beiden Begriffen?
Um das herauszufinden, muss man einen Blick ins Innere der beiden Personengruppen werfen.
Was ist Schüchternheit?
Schüchternheit ist eine Form der Angst und kann eine Vorstufe zur sozialen Phobie darstellen. Wie jede Angst, ist auch Schüchternheit erlernt, das heißt, man kommt nicht schüchtern auf die Welt, sondern wird es im Laufe des Lebens.
Meist führen negative Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit, zu diesen Ängsten. Ein Kind, das bspw. eine Präsentation in der Schule halten musste und dabei ausgelacht oder vom Lehrer vor der ganzen Klasse kritisiert wurde, kann eine Angst davor entwickeln, vor Menschen zu sprechen. Das kann sich bis ins Erwachsenenalter ziehen und, wenn man nichts dagegen unternimmt, immer schlimmer werden.
Kommt diese Person dann in eine soziale Situation, hat sie Angst
- sich zu blamieren
- kritisiert zu werden
- ausgeschlossen zu werden
- abgelehnt zu werden
Was ist die logische Konsequenz? Vermeidung der angstauslösenden Situationen.
Die schüchterne Person
- lehnt Einladungen zu Gruppen-Events ab
- bekommt bei Gesprächen den Mund nicht auf
- setzt sich an den Rand, anstatt auf der Tanzfläche abzurocken
- traut sich nicht, ihre eigene Kreativität auszudrücken bzw. mit anderen zu teilen
- findet tausend Ausreden, warum sie ihre Träume nicht erfüllen kann
Das Motiv hinter Schüchternheit ist IMMER Angst, denn eigentlich wünscht sich die schüchterne Person nichts sehnlicher, als
- an Gruppen-Events entspannt teilzunehmen
- sich mit anderen auszutauschen und Kontakte zu knüpfen
- mit den anderen zu tanzen und dazuzugehören
- ihr Buch auf einer Lesung zu präsentieren oder auf der Bühne zu singen
- endlich ihr Traumleben zu leben und diese besch…eidene Angst loszuwerden
Es entsteht also ein Leidensdruck.
Laut dem Psychologieprofessor Dr. Jonathan Cheek gibt es übrigens vier unterschiedliche Arten von Schüchternheit.
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Die Abgrenzung zur Introvertiertheit
Obwohl sich Introvertierte oft ähnlich wie Schüchterne verhalten, steckt bei ihnen keine Angst dahinter, sondern ein angeborenes Temperament.
Introvertierte schöpfen neue Energie aus Ruhephasen und möglichst wenig Interaktion mit anderen, während extrovertierte Menschen Action und starke äußere Reize benötigen, um ihre Energiereserven aufzuladen.
Introvertierte ticken also einfach anders als extrovertierte Menschen. Das hat u. a. auch biologische Gründe.
Die Chancen sind hoch, dass man einen introvertierten Partygast ebenfalls am Rand findet, anstatt mitten auf der Tanzfläche. Allerdings nicht, weil die introvertierte Person Angst vor einer Blamage oder „Fehlern“ hat, sondern weil sie einfach keine Lust hat und lieber das Treiben beobachtet. Vielleicht auch, weil sie schon länger auf der Party ist und ihr langsam die Energiereserven ausgehen.
Bei Gesprächen in der Gruppe halten sich Introvertierte eher zurück (außer es geht um unser absolutes Lieblingsthema, dann können wir zu Quasselstrippen mutieren). Aber auch hier steckt nicht die Angst vor Ablehnung dahinter, sondern dass Introvertierte nicht sonderlich spontan sind, Small Talk absolut nicht können und dazu neigen, zu viel nachzudenken, bevor sie etwas sagen. Deshalb ist auch z. B. telefonieren den meisten Introvertierten ein Graus.
Ganz wichtig hierbei ist, dass Introvertierte i. d. R. keinen Leidensdruck verspüren. Sie sind einfach eher nach innen gekehrt und zurückhaltend, das ist ihr Charakter, Punkt.
Natürlich heißt das nicht, dass Introvertierte nicht gleichzeitig auch schüchtern sein können. Ich gehörte früher selbst zu den schüchternen Introvertierten und tatsächlich ist die Kombination Schüchternheit und Introversion häufiger als schüchterne Extrovertierte. Und ja, letztere existieren wirklich und das sind besonders arme Schweine. 🙁
Merke: Schüchternheit ist erlernt und erzeugt Leidensdruck. Introversion ist angeboren und erzeugt i. d. R. keinen Leidensdruck. Schüchternheit und Introversion können aber auch zusammen auftreten. |
Schüchternheit ist eine Schwäche. Introversion nicht.
Schüchternheit kann allgemein als Schwäche gesehen werden, denn sie macht die Betroffenen unglücklich. Deshalb ist es wichtig, dass sie etwas dagegen unternehmen.
Introvertierte Menschen müssen sich da keine Sorgen machen. Zwar wird ihnen von der Gesellschaft oft eingeredet, dass sie sich ändern müssten und nicht „normal“ seien, aber das ist absoluter Quatsch. Introversion ist genauso normal wie Weihnachten im Dezember. Es ist keine Schwäche und wenn man Introvertierte so leben lässt, wie sie sich wohlfühlen, sind sie meist glückliche, zufriedene Zeitgenossen.
Schüchternheit kann man überwinden. Introversion nicht.
Da Schüchternheit erlernt ist, kann sie auch wieder „verlernt“ werden. Das ist nicht einfach und oft schafft man es auch nicht ohne Hilfe von außen (z. B. von Freunden oder Familie, psychologischen Beratern oder in heftigeren Fällen auch einem Therapeuten).
Die angeborene Introvertiertheit hingegen kann nicht überwunden werden – und muss es auch gar nicht. Selbstsichere Introvertierte können genauso ihr Leben genießen wie selbstsichere Extrovertierte. Nur eben auf ihre ganz eigene, ruhige Art.
Schlussgedanken
Fassen wir also noch mal zusammen:
- Introvertiert kommst du auf die Welt, schüchtern wirst du aufgrund negativer Erlebnisse.
- Introversion ist keine Schwäche und muss nicht überwunden werden.
- Schüchternheit schon, zumindest wenn der Leidensdruck zu groß wird.
Wenn du dazu Fragen hast, kannst du sie mir gerne in den Kommentaren stellen.
Wir lesen uns bald wieder. Halt die Ohren steif!
Alles Liebe,
Mim ✌️
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Hier gibt’s noch mehr Infos zum Thema:
- Bin ich introvertiert? (Mit Test!)
- Warum Introvertierte häufiger schüchtern sind
- 12 Gründe, warum Introvertierte telefonieren hassen
- Introvertiert oder schüchtern? 7 erstaunliche Unterschiede | Vivien Mallon auf INTROPOWER.DE
- Are You Shy, Introverted, Both, or Neither (and Why Does It Matter)? | Susan Cain auf QUIETREV.COM
Hi,
ich habe auch erst vor zwei, drei Jahren begriffen, dass ich zwar schüchtern bin, aber auch introvertiert und das es okay ist. Seitdem fällt es mir viel leichter Einladungen nicht anzunehmen, wenn ich merke, dass mir die Energie fehlt usw. Ich konnte mich mehr akzeptieren und lerne immer noch, wo sich mein Platz befindet. Auch hadere ich öfters mit den üblichen FOMO Situationen, aber auch das kommt und geht. Durch die Erkenntnis, dass ich ein introvertierte Mensch bin, habe ich weniger das Bedürfnis wie die anderen zu sein (Extrovertierte), leider sehe ich dadurch auch häufiger die Fehler in unserer Arbeitswelt, die in vielen Dingen, gerade in Bezug auf Beurteilungen, auf extrovertierte Menschen ausgelegt ist. Hier muss einfach ein Wandel geschehen. Jede:r hat Stärken und Schwächen. Die Stärken wollen jedem einzelnen Menschen sollten optimal eingesetzt und gewürdigt werden.
Viele Grüße
Jenny
Hallo liebe Jenny,
vielen Dank für deinen Kommentar.
Das freut mich riesig, dass du diese Erkenntnis für dich gewonnen hast. Für mich war es auch eine richtige „Erlösung“, als ich begriffen habe, dass introvertierte Menschen genauso okay und normal sind wie extrovertierte Menschen.
Oh ja, leider hast du recht damit, dass unsere Arbeitswelt häufig auf extrovertierte Menschen ausgelegt ist und das als „normal“ betrachtet wird. Ruhige Menschen werden dann schnell schlechter beurteilt, man traut ihnen weniger zu und hält sie möglicherweise sogar für inkompetent. Da muss wirklich noch sehr viel passieren. Hier etwas mehr aufzuklären ist eines meiner großen Ziele.
Genau, du bringst es voll auf den Punkt: Jede*r hat Stärken und Schwächen. Nur weil jemand ruhig ist, heißt das nicht, dass die Person nicht auf ihrem Gebiet glänzen kann.
Ganz herzliche Grüße
Mimi
Hi, ich seh das Problem mit der Arbeitswelt genauso wie Jenny. Ich bin schon so oft kritisiert worden für meine „zu“ ruhige Art. Man darf das nicht persönlich nehmen. Manches ist auch nur so dahin gesagt, weil alle es sagen oder so sagen müssen. Ich finde es verdammt schade, weil Anderen ja so auch etwas entgeht und man sich so nicht gemeinsam entwickeln kann. Ich hab auch schon viel von extrovertierten Menschen lernen können, aber Extroversion ist halt nicht nur das NonPlusUltra. Das ist eben falsch. So wird es aber leider immer wieder vermittelt. Wäre eigentlich auch mal gut, dass jemand darüber mal darüber aufklärt, welche Vorurteile es über Extrovertierte gibt. Leider können sich durch negativen Erfahrungen wie Ablehnung Schüchternheit und Ängste auch noch verstärken. Viele soziale Ängste haben daher nicht nur individuelle Gründe, sondern entstehen auch in so einem Kontext. Ich glaube, dass es so enorm wichtig ist, sich selbst gut zu kennen und seine Bedürfnisse zu achten. Das wird einem leider nur oft schlecht beigebracht. Ich hab nur durch Zufall in einer Buchhandlung das Arbeitsbuch „Still“ von Susan Cain gefunden. Im Manifest für intovertierte Menschen steht u.a. „Dem eigenen Temperament treu zu bleiben, ist auf lange Sicht gesehen der Weg dazu, die Arbeit zu finden, die Sie lieben und die wichtig ist.“ Das wäre doch mal was. ;o)
Danke Mim, dass du das Thema transparenter machst und weiter bringst.
Hallo Katrin,
vielen Dank für deinen lieben Kommentar. Ich bin da ganz deiner Meinung. Es ist gerade in der Arbeitswelt sehr schwierig für Introvertierte. Dabei haben wir so viel zu geben. Im Grunde ergänzen sich Introvertierte und Extrovertierte auch ganz wunderbar, vorausgesetzt die Arbeitsumgebung wird an beide Temperamente angepasst, sodass wir von den Stärken beider profitieren können.
Und ich gebe dir recht, dass die sozialen Ängste von Introvertierten häufig noch verstärkt werden, weil sie in einer Welt leben, in der Extraversion als das Nonplusultra angesehen wird. Das ist ein echtes Problem, auf das ich immer wieder hinweise, weil es mir sehr wichtig ist. Es liegt mir am Herzen, dafür den Blick zu schärfen und die Perspektive von Extrovertierten so zu erweitern, dass sie uns Intros besser verstehen und besser auf uns reagieren können.
Das Zitat von Susan Cain ist auch ganz toll. Ich habe „Still“ auch gelesen und es ist wohl DAS Standard-Werk zum Thema Introversion, das ich jedem nur empfehlen kann.
Ganz liebe Grüße und eine gute neue Woche!
Mim
[…] wurde in der Schule früher ausgeschlossen, weil ich so ruhig war. Manchmal haben mich meine Klassenkameraden auch direkt darauf angesprochen und kritisiert. Ich […]
[…] Erst mal vorneweg: Introvertiert und schüchtern zu sein, ist nicht dasselbe. Es gibt einen großen Unterschied. […]
Mim, vielen Dank für diesen super Impuls, der den Unterschied zwischen introvertiert und schüchtern sehr gut auf den Punkt bringt. Beste Grüße Markus
Hallo Markus,
vielen Dank für deinen Kommentar. Ich habe mich sehr darüber gefreut. 🙂
Beste Grüße
Mim