Von Nadine Hermann
Ein leiser Anfang
Vielleicht kennst du das:
Du bist zuverlässig, funktional, stark.
Du hältst durch, auch wenn du innerlich längst nicht mehr kannst.
Du tust, was getan werden muss – für andere, für die Arbeit, für das Leben.
Und du denkst dabei oft: „Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen. Ich muss einfach weitermachen.“
Viele bemerken erst sehr spät, dass sie nicht nur gelegentlich stark sind,
sondern dass Starksein zur Rolle geworden ist, zur Identität.
Das Problem ist:
Wenn du zu lange stark bist, wirst du irgendwann unsichtbar für dich selbst.
Ich schreibe diesen Text,
weil ich selbst jahrelang in dieser Rolle gelebt habe –
funktionierend, zuverlässig, stark –
bis ich merkte, dass ich mich dabei still verloren hatte.
Heute begleite ich Menschen darin,
aus genau diesem Funktionsmodus zurück in ihre innere Weite zu finden:
weg vom „Immer stark sein müssen“
und hin zu einem Leben, das sich wieder nach dir anfühlt.
Und vielleicht ist dieser Text für dich der erste leise Schritt dorthin.
Wie wir lernen, stark zu sein
Niemand wird als „starke Person“ geboren.
Wir lernen es.
Manche lernen es früh, weil niemand anderes da war, der sie hält.
Andere lernen es später, weil Stärke bewundert, belohnt oder gebraucht wurde.
Stark zu sein, fühlt sich anfangs richtig an.
Du bekommst Anerkennung, Vertrauen, Verantwortung.
Du wirst gebraucht – und manchmal sogar geliebt, gerade weil du so viel trägst.
Doch irgendwann geschieht etwas Leises:
Du weißt gar nicht mehr, wer du bist, wenn du nichts trägst.
Du weißt, wie man durchhält – aber nicht mehr, wie man innehält.
Du weißt, wie man funktioniert – aber nicht mehr, wie man fühlt.
Wenn Funktionieren zur Selbstverständlichkeit wird
Funktionieren ist ein Überlebensmodus.
Er ist präzise, effizient, kontrolliert –
aber er kennt kein Fühlen, kein Zögern, kein Spüren.
Und genau das macht ihn so gefährlich:
Weil du nach außen weiter „funktionierst“,
merkt niemand, dass du innerlich schon lange erschöpft bist.
Vielleicht bemerkst du es selbst kaum noch:
- Du übergehst Hunger, Müdigkeit, Schmerz.
- Du kannst nicht „nichts tun“, ohne dich schuldig zu fühlen.
- Du bist für andere da, auch wenn du innerlich leer bist.
- Du lächelst, obwohl du innerlich still weinst.
Funktionieren macht dich unsichtbar.
Nicht für andere – für dich selbst.
Die stille Erschöpfung unter der Stärke
Was nach außen wie Stärke aussieht,
ist innen oft nur noch Spannung.
Dein Körper ist angespannt, dein Nervensystem im Daueralarm.
Du schläfst vielleicht, aber du erholst dich nicht.
Du lachst, aber es fühlt sich mechanisch an.
Viele, die lange stark waren, spüren irgendwann nichts mehr.
Sie sind nicht traurig, nicht wütend, nicht glücklich –
sie sind einfach nur leer.
Und diese Leere macht Angst.
Also halten sie sich noch stärker fest.
Bis der Körper nicht mehr mitspielt.
Bis der Geist keine Worte mehr findet.
Bis alles still wird –
und du plötzlich nicht mehr kannst,
obwohl du glaubst, du müsstest.
Was dein Nervensystem mit Stärke zu tun hat
Dein Nervensystem ist der unsichtbare Grund,
warum du so lange „funktionieren“ konntest –
und warum du jetzt vielleicht nicht mehr kannst.
Es ist wie ein feines, hochsensibles Netz,
das alles in dir steuert: Atem, Verdauung, Schlaf, Spannung, Emotionen, Gedanken, Bindung.
Es sorgt dafür, dass du überlebst –
aber nicht unbedingt dafür, dass du dich lebendig fühlst.
Wenn du zu lange stark bist, passiert etwas Stilles:
Dein Nervensystem schaltet dauerhaft auf Überleben.
Es hält dich wach, schnell, anpassungsbereit.
Du reagierst, bevor du fühlst.
Du leistest, bevor du atmest.
Das nennt man den Sympathikus-Zustand – Kampf oder Flucht.
Er ist wichtig, aber nur kurzzeitig gedacht.
Bleibst du zu lange dort,
fängt dein Körper an, alles, was weich ist, zu unterdrücken:
- Ruhe
- Hunger
- Trauer
- Sehnsucht
- Zärtlichkeit
Irgendwann kann dein System die dauerhafte Spannung nicht mehr halten.
Dann kippt es in den Rückzug –
du funktionierst noch, aber innerlich ist alles taub:
Keine Kraft, kein Antrieb, kein Kontakt zu dir.
Nur noch Leere.
Und genau dort landen viele,
die zu lange stark waren.
Das ist kein persönliches Versagen.
Es ist ein erschöpftes Nervensystem.
Und du kannst nichts „wegdenken“ oder „positiv manifestieren“,
was dein Körper im Überlebensmodus festhält.
Du brauchst keinen Willen – du brauchst Regulation.
Warum Hochsensible besonders oft zu stark sind
Wenn du hochsensibel bist,
dann bist du mit einer feineren Reizverarbeitung geboren.
Dein Nervensystem nimmt mehr wahr –
nicht nur Geräusche, Gerüche, Licht und Stimmen,
sondern auch Stimmungen, unausgesprochene Erwartungen und Spannungen zwischen Menschen.
Und genau das bringt viele Hochsensible früh in einen Zwiespalt:
- Du merkst viel mehr als andere – aber es wird nicht anerkannt.
- Du wirst als „zu empfindlich“ oder „zu emotional“ bezeichnet.
- Du bekommst früh das Gefühl, dass du „robuster“ sein musst, um dazuzugehören.
Also beginnst du, dich zu verhärten.
Du baust Stärke auf wie eine Rüstung:
Du wirst zuverlässig, funktional, leistungsbereit.
Du willst beweisen, dass du mithalten kannst –
obwohl dein Inneres nach Ruhe, Rückzug und Tiefe schreit.
Und weil du so fein wahrnimmst,
spürst du jede Disharmonie schneller –
also übernimmst du automatisch Verantwortung,
glättest Stimmungen, hältst Systeme zusammen.
Was von außen wie Stärke aussieht,
ist innen oft Daueranspannung.
Dein Nervensystem ist nicht für diese Härte gemacht.
Und deshalb erschöpfen sich Hochsensible im Funktionsmodus viel schneller.
Doch statt sich zurückzuziehen, werden sie meist noch stärker.
Denn sie haben gelernt:
Nur wenn sie leisten, dürfen sie sein.
Nur wenn sie stark sind, werden sie nicht verletzt.
Das Tragische ist:
Sie leben dabei gegen ihre eigentliche Natur.
Denn hochsensible Menschen sind nicht für Dauerstärke gebaut.
Sie sind für Feinheit gebaut. Für Tiefe. Für Verbundenheit.
Ihre Kraft liegt nicht im Durchhalten –
sondern im Spüren, im Sehen, im Innehalten.
Und genau deshalb brennen so viele von ihnen still aus,
lange bevor jemand merkt, wie viel sie getragen haben.
Du bist also nicht „zu schwach“ für die Welt.
Die Welt ist oft nur zu laut für deine Natur.
Du bist nicht schwach, wenn du weich wirst
Die Wahrheit ist:
Du bist nicht schwach, wenn du nicht mehr kannst.
Du bist ehrlich.
Stärke ist kein Dauerzustand.
Sie ist eine Bewegung – ein Rhythmus aus Anspannung und Entspannung.
Weich zu werden bedeutet nicht, aufzugeben.
Es bedeutet, dich wieder zu spüren.
Dich zu halten, statt dich zu zwingen.
Dich zu beruhigen, statt dich zu beschleunigen.
Weich zu sein, ist keine Schwäche.
Es ist ein Heimkommen.
Wie du langsam aus dem Funktionsmodus aussteigst
Du musst nicht alles fallenlassen.
Du musst nur anfangen, dich wieder wahrzunehmen.
Ganz behutsam.
Und vor allem: In deinem Tempo.
Hier sind ein paar sanfte Schritte, die helfen können:
🌿 Spüren statt leisten
Nimm dir jeden Tag einen Moment, in dem du nichts tust, außer fühlen.
Nicht meditieren, nicht analysieren – einfach bemerken, wie sich dein Körper anfühlt.
Wo ist Spannung? Wo ist Weite? Kein Urteil – nur Wahrnehmen.
🌿 Kleine Pausen ohne Begründung
Mach eine Pause, ohne sie zu rechtfertigen.
Nicht, weil du „genug geleistet hast“, sondern weil du atmest.
Je häufiger du das übst, desto sicherer fühlt es sich an, nichts zu tun.
🌿 Nein sagen üben
Sag einmal am Tag „Nein“ zu etwas Kleinem.
Nicht aus Abwehr, sondern aus Selbstachtung.
So merkt dein Nervensystem: Ich darf mich schützen.
🌿 Hilfe annehmen
Lass andere für dich da sein, ohne dich schuldig zu fühlen.
Dein Nervensystem reguliert sich in Verbindung schneller –
aber nur, wenn du zulässt, dass du gehalten wirst.
🌿 Deine inneren Grenzen spüren
Spür, wann dein Körper „zu viel“ sagt – und glaub ihm.
Nicht dein Kalender weiß, wie viel du tragen kannst, sondern dein Nervensystem.
Erlaube dir, frühzeitig auszusteigen – nicht erst, wenn es zu spät ist.
Diese Schritte sind klein, aber sie verändern alles.
Nicht sofort. Aber still. Und echt.
Du darfst aufhören, stark zu sein
Vielleicht ist das Wichtigste, was du heute hören musst:
Du musst nicht mehr stark sein, um liebenswert zu sein.
Du darfst dich aus dieser Rolle zurückziehen.
Du darfst langsam, sanft, schrittweise loslassen.
Nicht alles. Nur dich selbst – aus dem Griff.
Denn du bist nicht hier, um zu funktionieren.
Du bist hier, um dich zu fühlen.
Nicht, weil du musst.
Sondern weil du darfst.
🕊️
Wer hat’s geschrieben?
Wenn du magst, kannst du mich auf meiner Seite besuchen.
— dort findest du Räume, die nicht lauter machen wollen,
sondern stiller.
Weicher.
Echter.
So wie du.
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