Hochsensibel und Gewalt unter der Geburt – Roses Revolution Day

Hochsensibel und Gewalt unter der Geburt: Roses Revolution Day

Werbung | Heute ist der Roses Revolution Day 2022. Dieser Tag macht auf Gewalt in der Geburtshilfe aufmerksam. Mütter (und vielleicht auch manche Väter) legen an diesem Tag rosafarbene Rosen vor den Kreißsälen und Kliniken ab, in denen sie unter der Geburt Gewalt erfahren haben.

Meine Bloggerkollegin Katharina Tolle beschäftigt sich auf ihrem Blog Ich Gebäre seit Jahren mit dem Thema Geburt. Zum Roses Revolution Day 2020 veranstaltete sie eine Blogparade, an der ich mit meinem alten Blog teilnahm. Da ich jenen alten Blog in wenigen Wochen offline nehmen werde und das Thema hier auch gut hinpasst, habe ich mich entschlossen, den Beitrag von damals zu überarbeiten und hier zu posten.

Es geht nämlich um Hochsensibilität und Gewalt im Kreißsaal.

In diesem Blogpost erfährst du

  • was Hochsensibilität eigentlich ist
  • wie sich ein Leben als HSP anfühlt
  • warum Hochsensible anfälliger für negative Erfahrungen während der Geburt sind

Ich übergebe dann mal das Wort an mein 2020-Ich und wünsche dir eine gute Lesezeit.

Kurze Randbemerkung noch: Ich habe selbst noch nie ein Kind geboren, weshalb dieser Artikel sich auf die Erfahrungen anderer (hochsensibler) Mütter stützt.

Was ist Hochsensibilität?

Der Begriff „highly sensitive person“ („hochsensible Person“), kurz „HSP“, wurde in den Neunzigerjahren von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron geprägt. Ihr Buch „Sind Sie hochsensibel?“ * (im Original: „The Highly Sensitive Person“ *) gilt heute als die Bibel, beziehungsweise das Standardwerk zum Thema Hochsensibilität.

Etwa 15 bis 20 % der Bevölkerung sind hochsensibel. Diese Menschen reagieren empfindlicher auf Sinnesreize, wie z. B. Lärm, blinkende Lichter, grelle Farben, kratzende Kleidung, Gestank, Hitze und Kälte. Zudem haben HSP „feinere Antennen“ wenn es um Gefühle geht, sowohl ihre eigenen, als auch die anderer Menschen.

Für viele HSP ist es geradezu eine Qual, Gewalt und Leid im Fernsehen zu sehen. Deshalb befinden sich unter Hochsensiblen auch nur wenige Fans von Horrorfilmen. Dahingegen haben HSP ein Gespür dafür, wie es anderen Menschen geht. Selbst wenn ihr Gegenüber behauptet, es sei alles okay, fühlen Hochsensible oft, wenn es sich dabei um eine Lüge handelt.

HSP reagieren häufig stärker auf Substanzen wie Alkohol, Drogen, Medikamente und Koffein als „Normalsensible“. Auch ihre Schmerzempfindlichkeit ist ausgeprägter. Was andere lediglich als unangenehm wahrnehmen, kann einer HSP bereits wehtun.

Die hochsensible Psyche

Es kommt vor, dass bei hochsensiblen Kindern fälschlicherweise ADHS diagnostiziert wird, weil sie sich im Klassenzimmer schlecht konzentrieren können. Sind diese Kinder in einer ruhigeren Umgebung, haben sie jedoch keine Schwierigkeiten mit ihrer Aufmerksamkeit. Es sind die vielen Außenreize und Sinneseindrücke, die sie in der Schule stören und ablenken.

Hochsensible haben oft einen hohen Leidensdruck, weil sie sich „andersartig“ fühlen und glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimme. Viele HSP sind von Natur aus schüchtern und introvertiert. Sie denken viel nach und beziehen Konflikte schnell auf sich, was schreckliche Schuldgefühle auslösen kann.


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HSP sind harmoniebedürftige Menschen und gehen Streitereien am liebsten aus dem Weg. Auch mit Kritik haben Hochsensible mehr zu kämpfen als weniger sensible Menschen. HSP entwickeln häufig psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen.

An dieser Stelle sei aber angemerkt, dass Hochsensibilität an sich eine angeborene Charaktereigenschaft und keine Krankheit ist. Hochsensibilität kann also nicht behandelt oder gar geheilt werden.

Jedoch können Betroffene lernen, mit ihrer Hochsensibilität umzugehen und sie als eine Stärke, anstatt einer Schwäche anzusehen. Das ist ein langer Prozess, denn das eigene Mindset ändert sich nicht von heute auf morgen. Aber es lohnt sich, diesen Weg zu gehen.

Hochsensibilität als Begabung

Manche Experten betrachten Hochsensibilität als eine Form der Hochbegabung. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das allerdings umstritten.

Ich halte diesen Ansatz für interessant. Hochbegabung ist für mich mehr als nur ein IQ von über 130. Es gibt Fachgebiete, die nicht von einem herkömmlichen IQ-Test geprüft werden, aber in denen man trotzdem hochbegabt sein kann, beispielsweise herausragendes musikalisches oder athletisches Talent.

Ob ich Hochsensibilität auch dazu zähle, darüber bin ich mir noch nicht im Klaren und möchte mich erst noch intensiver mit der Materie beschäftigen. Schreib mir gerne in die Kommentare, wie du darüber denkst.

Wie lebt es sich als HSP?

Meine Hochsensibilität hat sich bereits im Kleinkindalter bemerkbar gemacht. Ich war schon immer extrem geräuschempfindlich, was bei mir zu einer Phobie geführt hat, die niemand nachvollziehen konnte: Ich hatte panische Angst vor Luftballons.

Während die anderen Kinder um mich herum es liebten, mit den bunten Ballons zu spielen, graute mir davor, dass einer platzen könnte. Der laute Knall erschreckte mich jedes Mal dermaßen, dass ich mir grundsätzlich die Ohren zuhielt, wenn ich jemanden mit einem Luftballon hantieren sah.

Kindergeburtstage waren daher ganz schlimm. Vor allem, als befreundete Zwillinge mich zu ihrem „Luftballonfest“ einluden. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits acht oder neun war und besser mit meinen Ängsten umgehen konnte, war es die reinste Qual.

Aufgrund meiner extremen Geräuschempfindlichkeit fürchtete ich mich als Kind auch vor Donner, Düsenjets (die gelegentlich ihre Runden über unserer Stadt drehten), Sirenen und sogar Kirchenglocken.

Ich war vier oder fünf Jahre alt, als ich mit meiner Kindergartengruppe den städtischen Kirchturm besichtigen durfte. Meine Angst, dass während unserer Besichtigung die Glocken läuten könnten, war so groß, dass die Praktikantin mit mir den Kirchturm verlassen musste. Als ich unten auf die anderen wartete, hielt ich mir die ganze Zeit über sicherheitshalber die Ohren zu.

Schmerzen, Hitze, Kälte? Oje!

Auch meine erhöhte Schmerzempfindlichkeit machte sich früh bemerkbar. Wenn ich mich verletzte, litt ich oft länger als andere Kinder. Spritzen waren für mich Instrumente aus der Hölle. Bis heute meide ich Massagen, da sie sich für mich eher schmerzhaft, als entspannend anfühlen.

Sehr auffallend ist auch meine Sensibilität bezüglich Hitze und Kälte. Ich bin weder ein Sommer- noch ein Wintermensch. Meine Getränke stelle ich im Normalfall nicht in den Kühlschrank, weil ich von gekühlten Getränken Kopfschmerzen bekomme (meiner hochsensiblen Mutter geht es übrigens genauso). Eiscreme mag ich am liebsten angetaut.

Ich hatte lange große Scheu vor dem Kochen, weil ich dabei zum Beispiel mit heißem Wasserdampf in Berührung komme. Wenn ich alleine esse, lasse ich meine Speisen fünf bis zehn Minuten abkühlen. Manchmal sind sie anschließend nur noch lauwarm, aber das ist für mich die ideale Temperatur.

Knusprige Lebensmittel meide ich. Beim Nudelauflauf bevorzuge ich die weicheren Nudeln von unten, nicht die harten an der Oberfläche. Backwaren wie Pizza, Brot oder Kuchen dürfen bei mir keinen zu harten Rand haben. Die feste Konsistenz fühlt sich unangenehm in meinem Mund an.

Ohne Harmonie geht nix

Aber auch auf Gefühlsebene macht sich meine Hochsensibilität bemerkbar. Ich bin ein extrem harmoniebedürftiger Mensch. Wenn andere mir gegenüber laut werden oder mich kritisieren, reagiere ich meist mit komplettem Rückzug. Manchmal versuche ich, das Problem zu schlichten, indem ich so mitfühlend wie möglich meine eigene Sichtweise darstelle.

Merke ich aber, dass ich damit auf Granit stoße und sich der Streit eher noch zuspitzt, verfalle ich in eine Art Fluchtmodus. Der Konflikt raubt mir nicht nur jegliche Energie, sondern versetzt mich geradezu in Panik. Anstatt weiterzudiskutieren, laufe ich davon.

Mein Gegenüber nimmt oft fälschlicherweise an, er*sie wäre mir egal oder ich würde den Streit nicht ernst nehmen. Dabei bin ich einfach nur vollkommen mit der Situation überfordert und habe – wenn es sich um einen nahestehenden Menschen handelt – Angst, etwas Falsches zu sagen und die Person zu verlieren. Nicht selten beschäftigen mich solche Konflikte im Nachhinein noch Tage, Wochen oder sogar Monate.

Gefühle der Anderen spüren

Hinzu kommt, dass ich es fühle, wenn es anderen Menschen nicht gut geht. Schlechte Stimmungen nehme ich schnell wahr, auch wenn sie nicht offen gezeigt werden. Haben andere Menschen Schmerzen, spüre ich das am eigenen Körper.

Gewalttätige und grausame Filme meide ich. Aber auch Sendungen wie „Upps! – Die Pannenshow“, in denen sich Menschen wehtun, bereiten mir mehr Unwohlsein als Spaß. Pure Schadenfreude ist mir fremd. Ich kann höchstens im Nachhinein lachen, wenn feststeht, dass die Person sich nicht verletzt hat und die Situation selbst lustig fand.

Stress ist Gift

Mit Veränderungen konnte ich schon immer schlecht umgehen. Das heißt nicht, dass ich Veränderungen grundsätzlich meide, denn manchmal sind sie einfach nötig. Aber ich brauche viel Zeit, um mich auf die Veränderung vorzubereiten und mich darauf einzustellen. Spontanität ist keine meiner Stärken. Oft bin ich in Zeiten der Neuerung extrem empfindlich und weniger belastbar.

Stress, Hektik und viel menschlicher Kontakt sind Gift für mich. Ich funktioniere am optimalsten, wenn ich mich zurückziehen und in meinem eigenen Tempo arbeiten kann. Großraumbüros sind daher keine geeigneten Arbeitsorte für mich.

HSP und Gewalt unter der Geburt

Nachdem du nun einen ersten Eindruck von uns Hochsensiblen bekommen hast, verrate ich dir, warum HSP anfälliger für Gewalt unter der Geburt sind als weniger sensible Menschen. Der Grund ist eigentlich ein ganz einfacher und vielleicht kannst du ihn dir inzwischen auch schon denken:

Hochsensible nehmen unangenehme Situationen schneller als Gewalt wahr als weniger Sensible.

Gebärende sind in einer Ausnahmesituation. So schön eine Geburt auch ist, sie ist mit Schmerzen und Erschöpfung verbunden. Manchmal auch mit Angst. Schon bei weniger Sensiblen löst das eine Menge Stress aus. Wie schwierig ist dieses Erlebnis dann erst für eine HSP?

Im Folgenden möchte ich ein paar Beispiele nennen, wie HSP Situationen im Kreißsaal als bedrohlich oder gewalttätig empfinden können, die von weniger Sensiblen lediglich als unangenehm wahrgenommen werden.

Schmerzen bei der Geburt

Auch wenn ich selbst noch nie ein Kind zur Welt gebracht habe, bin ich mir bewusst, dass Wehen sehr schmerzhaft sind, vor allem, wenn es sich um die erste Geburt handelt. Bei meiner Recherche bin ich auf einen Artikel auf Medela (der Beitrag war 2022 nicht mehr abrufbar) gestoßen, in dem Wehen „(…) wie eine Mischung aus starken Menstruationsschmerzen mit üblen Magen-Darm-Krämpfen und Rückenschmerzen“ beschrieben werden.

Ich weiß, wie sich die einzelnen Schmerzarten getrennt anfühlen und alleine bei der Vorstellung, wie quälend das in Kombination sein muss, wird mir ganz anders.

Gewalt unter der Geburt – ein paar Beispiele

Stell dir vor, eine HSP mit ihrer höheren Schmerzempfindlichkeit befindet sich in dieser Situation. Medikamente möchte sie nicht nehmen, weil sie sich bewusst ist, dass diese bei ihr stärker wirken und sie anfälliger für Nebenwirkungen ist.

Die zuständige Hebamme hat eine lange Schicht hinter sich und möchte eigentlich nach Hause. Die HSP spürt die negative Atmosphäre im Kreißsaal. Sie sucht die Schuld bei sich und fühlt sich unwohl.

Weil der werdende Vater vor Aufregung ständig redet und lacht, schickt die Hebamme ihn ohne Rücksprache und Einwilligung der gebärenden HSP hinaus. Er mache seine Frau nur nervös. In Wirklichkeit ist aber das Gegenteil der Fall: Die räumliche Trennung von ihrer Begleitperson versetzt die HSP in Angst. Mit der schlecht gelaunten Hebamme alleine in einem Raum zu sein, empfindet sie als bedrohlich.

Immer wieder versucht die Hebamme, der HSP Schmerzmittel aufzuquatschen. Ihr Ton wird dabei zunehmend rauer und anklagender. „Jetzt stellen Sie sich nicht so an. Nehmen Sie eine Tablette.“

Die HSP hat Angst, die Hebamme mit einer erneuten Ablehnung so zu reizen, dass sie sie womöglich anschreit. Ihr Mann ist nicht mehr im Raum und sie befürchtet, in Tränen auszubrechen, wenn sie sich alleine gegen die verbalen Angriffe der Hebamme wehrt. Das wäre ihr nicht nur peinlich, sondern böte der Hebamme noch mehr Angriffsfläche. Also stimmt sie, gegen ihren Willen, der Einnahme eines Medikaments zu.

Na, wie viele gewalttätige Handlungen stecken in diesem Fallbeispiel? Hast du mitgezählt?

Hier kommt die Auflösung

Die erste Gewalterfahrung war, dass die HSP ohne Rücksprache und Einwilligung von ihrem Mann getrennt wurde. Sie fühlt sich dadurch hilflos und bedroht, insbesondere weil sie die negative Stimmung im Raum wahrnimmt und sich wegen des enormen Stresses nicht in der Lage fühlt, sich selbst zu verteidigen.

Das zweite Beispiel bestand in der verbalen Gewalt der Hebamme („Jetzt stellen Sie sich nicht so an.“). Das geht damit einher, dass sich die HSP unter Druck gesetzt fühlt, was die dritte Gewaltsituation darstellt.

Zum Schluss werden der HSP gegen ihren Willen Medikamente verabreicht. Eine Zustimmung aus Angst ist keine Zustimmung, sondern Nötigung. Beides, die unfreiwillige Gabe von Schmerzmitteln und die Nötigung, sind Formen von Gewalt.

Insgesamt kommen wir also auf fünf gewalttätige Handlungen. Hast du alle erkannt?

Roses Revolution Day – ein wichtiger Tag

Ich hoffe, dieser Artikel hat dir einen kleinen Einblick in das Leben von Hochsensiblen gegeben und es für dich nachvollziehbar gemacht, warum HSP mit ihrer feinfühligen, sensiblen Art Handlungen als gewalttätig oder bedrohlich empfinden können, die auf andere Menschen harmlos wirken.

Vielleicht hast du dir bei manchen meiner Beispiele gedacht, dass die Situationen ja eigentlich gar nicht so schlimm und schon gar nicht als Gewalt einzustufen sind. Genau deshalb habe ich diesen Artikel geschrieben.

Gewalt ist nicht nur, wenn jemand geschlagen oder angebrüllt wird. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Viele Gewalthandlungen werden von Außenstehenden heruntergespielt, aber für die Betroffenen können sie traumatische Erfahrungen sein – unabhängig davon, ob sie hochsensibel sind oder nicht.

Während eines so stressigen und einschneidenden Erlebnisses wie einer Geburt ist man besonders hilfsbedürftig und verletzlich. Deshalb ist es so wichtig, dass wir zum Roses Revolution Day am 25. November ein Zeichen gegen Gewalt in der Geburtshilfe setzen und darauf aufmerksam machen.

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